Seit einigen Jahren gehört es zu meinem Buchmessen-Vergnügen, völlig unvorbereitet und stets im vollen Gallop am Messestand von Literadio einzulaufen. Heuer sitzt auf der kleinen Bühne gerade Herbert Gnauer mit dem Theatermacher, Fernsehdramaturg und Buchautor Gerald Szyszkowitz. Man bedeutet mir, mich nicht länger zu verplaudern, sondern Platz zu nehmen und zuzuhören.
„Jesus ist ein Bastard“
Es ist sofort spannend. Christopher Marlowe, der große Autor der Renaissance, auf dessen Werk und Biographie Szyszkowitz spezialisiert ist, hat also gerade etwas völlig Skandalöses wie „Jesus ist ein Bastard“ oder so ähnlich verlautbaren lassen. Auf diese Weise im England des 16. Jahrhunderts unhaltbar geworden, täuscht der Secert Service seinen Tod vor und bringt ihn aufs europäische Festland, wo er sich gemeinsam mit dem spanischen Kollegen Cervantes der Spionage befleißigt. Sie vertauschen unter anderem die Kanonenkugeln der spanischen Armada, so dass diese sich gegen den Angriff durch die Engländer unter Drake kaum wehren kann. Die Geschichte hat Action-Film Qualität.
Es gibt in der gemeinsamen Geschichte von Cervantes und Marlowe eine Fülle von Details, die nicht nur historisch verbürgt sind, sondern sich überdies in den Dramen von William Shakespeare wiederfinden. Und die Szyszkowitz‘ Theorie stützen, Marlowe habe die berühmten Klassiker geschrieben, die unter dem Deckmann des Geschäftsmannes aus Stratford-upon-Avon veröffentlicht wurden. Das ist alles so unglaublich und noch dazu unterhaltsam vorgetragen, dass ganz klar ist, dass diese Bücher in naher Zukunft gelesen werden müssen. Bingo. Der Roman „Marlowe und die Geliebte von Lope de Vega“ ist bereits in der Edition Roesner erschienen, der Titel „Romeo und Julia in Kreta“ folgt in Kürze.
Die Macht der Randfiguren
Im Anschluss stellt Daniela Fürst zwei Bände mit verschollen geglaubten Essays von Stefan Zweig vor. „Sternenbilder“ und „Zeitlose“ in der Reihe tranScript der Edition Rösner. Berührend der Nachruf von 1923 auf die ansonsten historisch unbedeutende Ottilie Demelius, die die letzte Zeitzeugin von Goethe war. Während Verleger Erich Schirhuber konstatiert, dass die Essays einen neuen Blick auf das Gesamtwerk des Autors eröffneten, erinnert sich die Zuhörerin daran, dass das was sie immer an den Büchern Zweigs gefesselt hat, nicht nur der sensible Blick des Autors auf herausragende historische Persönlichkeiten war. Es war vor allem sein Verständnis für die Verfasstheit einer Gesellschaft, in deren Kontext diese Individuen erst Bedeutung erlangt haben. Zweigs untrügliches Gespür für das Erzählpotential, das in kleinsten Details steckt.
Radio-Flaneur zu sein…
Nach einem kurzen Ausflug zur Gastland-Ausstellung „Frankfurt auf Französisch“ wartet am Stand dann die ultimative Überraschung: Auf der Bühne sitzt Selim Özdogan im Interview mit Erika Preisel. Sein Roman „Wo noch Licht brennt“ ist erschienen im Haymon Verlag. Was die Zuhörerin im Augenblick noch mehr fasziniert als die Geschichte von Gül, der Wanderin zwischen den Kulturen der Türkei und Deutschlands, ist die Tatsache, dass der in Köln lebende Autor, ein alter Bekannter ist. Was für ein Wiedersehen!
Das Programm müsste man lesen können, denken Sie jetzt womöglich. Wirklich, frage ich mich. Ein Radioprogramm, denke ich mir, sollte man unter keinen Umständen jemals lesen, dafür aber so oft wie möglich anhören. Und ein Radio-Flaneur zu sein auf der Frankfurter Buchmesse, das ist eigentlich das Beste. Danke, Literadio.
von Natalie Soondrum